Trotz wiederholter Forderungen und einer wachsenden Zahl von Produkten auf dem Markt bleiben Verbraucher in Deutschland unzureichend vor potenziell unsicheren oder unwirksamen Nahrungsergänzungsmitteln geschützt. Eine aktuelle Bilanz zeigt, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht mit der rasanten Entwicklung des Marktes Schritt halten.
Wichtige Erkenntnisse
- Verbraucher sind unzureichend vor unsicheren Nahrungsergänzungsmitteln geschützt.
- Forderungen nach altersabhängigen Höchstmengen und Positivlisten für Inhaltsstoffe bestehen seit Jahren.
- Die Kontrollen, insbesondere im Onlinehandel, sind stark überlastet und ineffektiv.
- 95% der Befragten wünschen sich eine Sicherheitsprüfung vor Markteinführung.
- Ein Zulassungsverfahren und ein Nutrivigilanz-System werden dringend gefordert.
Regulierung hinkt der Marktentwicklung hinterher
Die Versprechungen der Nahrungsergänzungsmittelindustrie sind vielfältig: Sie reichen von Superfood für das Immunsystem bis zu Mineralstoffen für die Schönheit. Doch die Realität sieht oft anders aus. Viele Produkte haben keine nachweisbare Wirkung. Hoch dosierte Mittel oder die Kombination mehrerer Präparate mit gleichen Nährstoffen können sogar ernste Nebenwirkungen verursachen.
Bereits vor der Bundestagswahl 2021 gab es einen Beschluss der damaligen Koalition, den Verbraucherschutz bei Nahrungsergänzungsmitteln zu verbessern. Die Verbraucherzentralen kritisierten diesen Ansatz jedoch schon damals als unzureichend. Seitdem hat sich an der Situation für die Verbraucher wenig geändert.
Faktencheck
Die Zahl der Neuanzeigen von Nahrungsergänzungsmitteln beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) ist explodiert. Gleichzeitig liegt die Beanstandungsquote bei bis zu 80 Prozent, sofern überhaupt Kontrollen stattfinden.
Herausforderungen im Onlinehandel und bei Influencer-Marketing
Besonders problematisch ist die Situation im Onlinehandel. Die Lebensmittelüberwachungsbehörden sind überlastet. Der Zoll kann bei jährlich über 413 Millionen abgefertigten Warensendungen und Paketen nur Stichproben durchführen. Eine effektive Kontrolle ist kaum möglich.
„Zur Durchsetzung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes im Onlinehandel fehlen noch immer notwendige Regelungen und Instrumente“, stellte Friedel Cramer, Präsident des BVL, bereits im März 2022 fest. Diese Aussage ist heute aktueller denn je.
Hinzu kommt die zunehmende Werbung über soziale Medien und durch Influencer. Hier verbreiten sich oft Falschinformationen und Halbwahrheiten. Das BVL selbst betonte im Dezember 2024, dass seriöse Berichterstattung und wissenschaftlich abgesicherte Informationen das beste Mittel gegen solche Desinformationen seien. Dies deutet auf eine erhebliche Schwachstelle in der aktuellen Überwachung hin.
Hintergrundinformation
Eine repräsentative forsa-Befragung im Oktober 2024 ergab, dass 95 Prozent der Verbraucher wünschen, dass Nahrungsergänzungsmittel vor ihrer Markteinführung auf Sicherheit geprüft werden. Dies würde viele der aktuellen Probleme lösen.
Dringende Forderungen für einen besseren Schutz
Die Verbraucherzentralen und der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) fordern eine umfassende Regulierung des lukrativen Geschäfts mit Nahrungsergänzungsmitteln. Die bloße Anzeigepflicht beim BVL ist nicht ausreichend. Ein zentrales behördliches Zulassungsverfahren auf nationaler Ebene ist notwendig, um die Sicherheit, korrekte Kennzeichnung und Richtigkeit der Werbeaussagen zu prüfen.
Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe
- Mehr als 20 Jahre nach Einführung der EU-Richtlinie über Nahrungsergänzungsmittel fehlen weiterhin gesetzliche Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe.
- Die Europäische Kommission muss europaweit einheitliche Höchstmengen festlegen.
- Sollte dies auf EU-Ebene weiter verzögert werden, muss die Bundesregierung auf nationaler Ebene rechtsverbindliche Höchstmengen einführen. Die aktualisierten Empfehlungen des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) aus dem Jahr 2024 könnten hier als Grundlage dienen.
- Für Kinder müssen separate, altersabhängige Höchstmengen definiert werden. Produkte für die ganze Familie sollten sich an der jüngsten Zielgruppe orientieren.
- Nahrungsergänzungsmittel für Säuglinge und Kleinkinder sind ungeeignet und bedürfen einer klaren Kennzeichnung.
Positivliste für weitere Stoffe
Jedes Jahr gelangen zahlreiche neue Stoffe, wie Pflanzenextrakte, in Nahrungsergänzungsmittel. Deren Wirksamkeit ist oft nicht belegt, und es gibt keine Qualitätsstandards. Verbraucher geben nicht nur Geld für leere Versprechen aus, sondern riskieren auch ernsthafte Neben- und Wechselwirkungen. Die vom BfR vorgeschlagenen Warnhinweise für einzelne Stoffe sollten verpflichtend werden.
Die Verbraucherzentralen fordern vom europäischen Gesetzgeber eine Positivliste für alle Stoffe, die Nahrungsergänzungsmitteln zugesetzt werden. Diese Liste muss Definitionen, Reinheitsanforderungen, Qualitätsstandards und zulässige Mengen festlegen. Sollte die EU-Ebene hier nicht zeitnah handeln, muss die Bundesregierung eine nationale, rechtsverbindliche Regelung erlassen.
Rechtlicher Hinweis
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom April 2025 (C-386/23) präzisiert die Zulässigkeit von sogenannten On-Hold-Claims. Unternehmen müssen demnach sicherstellen, dass Werbeaussagen über pflanzliche Stoffe wissenschaftlich fundiert sind und Verbraucher nicht irreführen.
Ein Nutrivigilanz-System für mehr Sicherheit
Um die Sicherheit der Verbraucher zu gewährleisten, fordern die Verbraucherzentralen und der vzbv die Einrichtung einer nationalen Meldestelle zur systematischen Erfassung von Neben- und Wechselwirkungen von Nahrungsergänzungsmitteln. Dies würde eine bessere Überwachung und schnellere Reaktion auf potenzielle Risiken ermöglichen.
Zusätzlich sind die zuständigen Berufsverbände aufgefordert, mehr Aufklärungsarbeit bei Patienten, Ärzten und in den Gesundheitsberufen zu leisten. Es geht darum, das Bewusstsein für Wechselwirkungen zwischen Nahrungsergänzungsmitteln und Medikamenten zu schärfen. Ärzte sollten bei Behandlungen konsequent nach der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln fragen, um gesundheitliche Risiken zu minimieren.
Die Forderungen der Verbraucherzentralen sind klar: Das System muss dringend reformiert werden, um den Schutz der Verbraucher vor den Risiken unregulierter Nahrungsergänzungsmittel zu gewährleisten. Es ist an der Zeit, dass die Politik handelt und die notwendigen gesetzlichen Grundlagen schafft.





