Das norwegische Robotikunternehmen 1X Technologies steht im Zentrum einer Debatte über seine Strategie zur Entwicklung humanoider Roboter. Die kürzliche Vorstellung seines NEO-Roboters, der für Vorbestellungen zu einem Preis von 20.000 US-Dollar angeboten wird, hat zu Diskussionen geführt. Kritiker, darunter namhafte Tech-Persönlichkeiten, sehen in der „Expert Mode“-Funktion des Roboters, die menschliche Teleoperation erfordert, einen Hinweis auf ein unfertiges Produkt. Doch eine nähere Betrachtung der Unternehmensgeschichte zeigt, dass dieser Ansatz seit einem Jahrzehnt fester Bestandteil der 1X-Philosophie ist und keine kurzfristige Anpassung.
Wichtige Erkenntnisse
- 1X's „Expert Mode“ ist keine Notlösung, sondern ein geplanter Teil der AI-Trainingsstrategie.
- Das Unternehmen setzt auf „passiv sichere“, energiearme Roboter für den Einsatz in unstrukturierten Umgebungen.
- Menschliche Teleoperation dient als „Bootstrapping“-Mechanismus, um reale Daten für die KI-Entwicklung zu sammeln.
- Die Strategie wird mit Teslas Ansatz für autonomes Fahren verglichen und von Branchenexperten unterstützt.
Die Hardware-Grundlage: Sicherheit ermöglicht Lernen
Die Vision von 1X-Gründer und CEO Bernt Børnich, die er seit zehn Jahren verfolgt, basiert auf einer fundamentalen Überzeugung: Sicherheit muss an erster Stelle stehen. Børnich, inspiriert vom Scheitern von Robotern wie Hondas ASIMO, analysierte die Schwachstellen traditioneller Robotik. Er stellte fest, dass viele Roboter auf einem „klassischen Robotik-Regime“ basieren, das schwere, energiereiche Motoren verwendet. Diese Bauweise macht Roboter potenziell gefährlich für den Einsatz in unstrukturierten Umgebungen wie Privathaushalten, da Kollisionen katastrophale Folgen haben könnten.
1X hat sich bewusst gegen dieses Paradigma entschieden. Stattdessen konzentriert sich das Unternehmen auf die Entwicklung „passiv sicherer“, energiearmer Roboter. Dies wird durch ein „Sehnenantriebssystem“ erreicht, das menschlichen Muskeln nachempfunden ist. Das Ergebnis ist ein „nachgiebiges“ und „weiches“ Design, das eine sichere Interaktion mit der Umgebung ermöglicht, ohne Schäden zu verursachen.
„Ein Roboter, der sich selbst oder seine Umgebung nicht beschädigen kann, ist ein Roboter, dem man erlauben kann zu ‚erkunden‘, durch ‚Versuch und Irrtum zu lernen‘ und letztendlich ‚unter uns zu leben und zu lernen‘.“
Faktencheck: ASIMO vs. NEO
- Hondas ASIMO: Hohe Energie, klassisches Robotik-Design, Schwierigkeiten in unstrukturierten Umgebungen.
- 1X NEO: Niedrige Energie, passiv sicheres Design, flexibel und auf Interaktion ausgelegt.
Die KI-Wette: Daten erfordern Einsatz
Mit einer sicheren Hardware-Plattform als Basis verfolgt 1X das Ziel, seine Roboter intelligent zu machen. Für Børnich entsteht wahre Intelligenz nicht im Labor, sondern durch eine Vielfalt an Daten. Er argumentiert, dass die vielfältigste Datenumgebung der Welt das Zuhause ist. Hier entsteht jedoch ein Dilemma: Ein Roboter kann nicht intelligent genug für den Haushalt werden, ohne im Haushalt zu sein, aber er kann nicht in den Haushalt, solange er nicht intelligent genug ist.
Hier kommt der umstrittene „Expert Mode“ ins Spiel. Børnich hat diesen „Bootstrapping“-Prozess seit Jahren öffentlich beschrieben. Der Plan war immer, menschliche Bediener in VR einzusetzen, um den Roboter zu „verkörpern“. Diese Teleoperation liefert „Experten-Demonstrationen“, die „Wissen von einem Menschen auf eine Maschine übertragen“.
Hintergrund: Teleoperation
Teleoperation bezeichnet die Steuerung eines Roboters oder einer Maschine aus der Ferne durch einen menschlichen Bediener. Im Kontext von 1X dient dies nicht als Endzustand, sondern als Mittel, um dem Roboter die notwendigen Daten für autonomes Lernen bereitzustellen.
Im Modell von 1X ist Teleoperation kein Versagen der Autonomie, sondern der Motor, der sie schafft. Eine weit verbreitete Demonstration des NEO-Roboters, bei der er unter menschlicher Anleitung einen Geschirrspüler einräumte, wurde von Kritikern als Beweis für die Unzulänglichkeit des Roboters angesehen. Doch für 1X war genau dieses Szenario Teil des Bootstrapping-Prozesses – die Teleoperation ist nicht das Endprodukt, sondern der Mechanismus zur Sammlung realer Daten.
Eine bewusste Strategie, kein „Betrug“
Diese historische Perspektive rückt die jüngste NEO-Einführung in ein neues Licht. Das „Human-in-the-Loop“-System ist kein peinliches Geheimnis; es ist genau der Mechanismus, den 1X seinen ersten Kunden anbietet. Das Unternehmen kommuniziert offen seinen „Sozialvertrag“ mit frühen Anwendern, die wissentlich die realen Daten bereitstellen, die zur Schulung der KI erforderlich sind.
Diese datenzentrierte Strategie wird oft mit Teslas Entwicklung des „Full Self-Driving“ verglichen und findet auch Unterstützung bei Robotik-Experten anderer Unternehmen.
„Alle scheinen sehr auf Teleoperation versus Autonomie fixiert zu sein“, twitterte Mario Bollini, Produktleiter von Atlas bei Boston Dynamics. „Aber für viele Haushaltsaufgaben ist Teleoperation der Weg, Autonomie zu trainieren/aufzubauen. ... Ein großes Vorbesteller-Early-Adopter-Programm ist eine großartige Möglichkeit, ein Weltmodell zu erstellen.“
Dieser Ansatz steht in direktem philosophischen Gegensatz zu Wettbewerbern wie Figure. Auch Figure setzt auf massive Datenmengen, aber durch seine „Project Go-Big“-Initiative zielt es darauf ab, seine KI mit menschlichen Videos zu trainieren, um Autonomie zu erreichen, bevor ein teleoperationsfreier Start erfolgt. 1X hingegen wettet darauf, dass die wertvollsten Daten nur vom Roboter selbst stammen können, wobei der „Expert Mode“ als Motor dient, um diese Daten im Feld zu sammeln.
Unterschiede im Ansatz
- 1X: Teleoperation im Feld zur Datensammlung, passiv sichere Hardware.
- Figure: KI-Training mit Videodaten, Autonomie vor dem Einsatz im Haushalt.
Es gibt keine Garantie dafür, dass die Strategie von 1X erfolgreich sein wird. Die Beweise zeigen jedoch, dass es sich nicht um ein kurzfristiges, schnell reich werdendes Schema handelt. Es ist ein bewusster, konsequenter und jahrzehntelanger Einsatz für eine sehr spezifische Vision der Zukunft der Robotik. Das Unternehmen setzt auf eine schrittweise Evolution, bei der menschliche Interaktion als Katalysator für die Entwicklung echter Roboterintelligenz dient.
Die Debatte um 1X und seine Teleoperationsstrategie verdeutlicht die unterschiedlichen Wege, die in der Robotik eingeschlagen werden, um humanoide Roboter alltagstauglich zu machen. Während einige auf reine Simulation und Laborentwicklung setzen, glaubt 1X an die Kraft realer Daten, gesammelt unter menschlicher Anleitung.





