Joachim Nagel, Vorstandsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB) und Präsident der Deutschen Bundesbank, äußerte sich in einem Interview mit Kathimerini zu aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen im Euroraum. Er betonte die beeindruckenden Fortschritte Griechenlands und diskutierte die Geldpolitik der EZB sowie die Herausforderungen für die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Nagel hob hervor, dass Europa trotz globaler Unsicherheiten auf einem guten Weg sei, die Inflation zu stabilisieren und die wirtschaftliche Resilienz zu stärken.
Wichtige Erkenntnisse
- Die Inflation im Euroraum nähert sich dem 2-Prozent-Ziel der EZB.
- Griechenlands wirtschaftlicher Aufschwung dient als positives Beispiel für Europa.
- Deutschland benötigt Strukturreformen zur Steigerung des Arbeitskräfteangebots und zur Reduzierung der Bürokratie.
- Ein gemeinsamer europäischer Energiemarkt und die Spar- und Investitionsunion sind entscheidend für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit.
- Das Vertrauen in die EU ist auf einem 18-Jahres-Hoch, was die Solidarität in unsicheren Zeiten widerspiegelt.
EZB-Geldpolitik und Inflationsentwicklung
Nagel betonte, dass der Euroraum eine gute Ausgangslage erreicht habe. Die Inflation liege nahe dem mittelfristigen Ziel von 2 Prozent. Erwartungen zufolge wird sie in den kommenden Jahren auf diesem Niveau bleiben. Dies stelle einen großen Erfolg dar, da die Teuerungsrate vor drei Jahren noch über 10 Prozent lag.
Spekulationen über künftige Leitzinsen lehnte er ab. Er bestätigte jedoch, dass die EZB auf Grundlage der vorliegenden Informationen den richtigen geldpolitischen Kurs eingeschlagen habe. Diese Stabilität ist ein Zeichen für die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen.
Faktencheck: Inflation im Euroraum
- Vor drei Jahren: Inflation über 10 Prozent.
- Aktuell: Nahe dem 2-Prozent-Ziel.
- Prognose: Stabil auf diesem Niveau in den kommenden Jahren.
Griechenlands Inflationsentwicklung und wirtschaftlicher Erfolg
In Griechenland waren die Lebenshaltungskosten für private Haushalte lange Zeit hoch. Die Inflation war dort bis vor kurzem anhaltend höher als im gesamten Euroraum. Nagel zeigte sich beeindruckt von Griechenlands wirtschaftlichem Aufschwung.
Im September zeigten vorläufige Eurostat-Daten einen deutlichen Rückgang der Inflation in Griechenland auf 1,8 Prozent. Dieser Rückgang erfolgte breit gefächert und ist eine gute Nachricht für die Verbraucher. Dennoch besteht kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. Der europaweite Rückgang der Teuerung war maßgeblich auf sinkende Energiepreise zurückzuführen.
„Ganz Europa ist davon beeindruckt, wie Griechenland und die Griechinnen und Griechen den wirtschaftlichen Aufschwung geschafft haben.“
– Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank
Nagel hob hervor, dass die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Schaffung resilienterer Energiemärkte dringend gestärkt werden müsse. Er unterstützt die europäischen Bestrebungen für einen gemeinsamen Energiemarkt. Dies würde die Bindungen zwischen den Ländern festigen. Griechenland könnte im Bereich der erneuerbaren Energien eine Führungsrolle einnehmen, während die deutsche Industrie stark an der Senkung der Energiekosten interessiert ist.
Perspektiven für die deutsche Wirtschaft
Ab dem kommenden Jahr erwartet Nagel positive Auswirkungen öffentlicher Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung auf das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands. Die Umsetzung von Plänen benötige jedoch Zeit. Die entscheidende Frage ist, ob diese Investitionen langfristiges Wachstum fördern werden.
Hierfür sind in Deutschland Strukturreformen notwendig. Diese sollen das Arbeitskräfteangebot erhöhen, den Übergang zu Netto-Null-Emissionen erleichtern und einen dynamischeren Unternehmenssektor stärken. Weniger Bürokratie und schnellere Verwaltungsprozesse sind laut Nagel unerlässlich für die politische Agenda.
Hintergrund: Strukturreformen in Deutschland
Deutschland steht vor der Aufgabe, seine Wirtschaft zukunftsfähig zu machen. Dies erfordert Anpassungen in verschiedenen Bereichen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und nachhaltiges Wachstum zu fördern. Die Bundesregierung hat hierfür Maßnahmen eingeleitet, deren Wirkung sich über einen längeren Zeitraum entfalten wird.
Solche Reformen sind politisch herausfordernd und selten populär. Deutschland ist jedoch entschlossen, den Übergangsprozess erfolgreich zu gestalten und sucht dafür starke Partner wie Griechenland.
Auswirkungen einer deutschen Stagnation auf Europa
Nagel zeigte sich optimistisch bezüglich der deutschen Wirtschaft. Alle Prognostiker gehen ab dem kommenden Jahr von einem soliden Wachstum aus. Er räumte jedoch erhebliche Herausforderungen ein. Die Bundesbank schätzt das Potenzialwachstum in den kommenden Jahren auf 0,4 Prozent. Dies wäre ein Prozentpunkt niedriger als in den letzten zehn Jahren und auch niedriger als in der EU ohne Deutschland. Diese Entwicklung bereitet ihm Sorgen.
Die Bundesregierung ergreift Maßnahmen zur Ankurbelung des Wachstums. Nagel betonte die gemeinsame Anstrengung in Deutschland und Europa, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern, während gemeinsame Werte geschützt werden. Diese Werte haben ihren Ursprung in der Agorá von Athen.
Europas Wettbewerbsfähigkeit und globale Stellung
Der Draghi-Bericht zur Zukunft der EU-Wettbewerbsfähigkeit wurde vor über einem Jahr veröffentlicht. Nagel wurde gefragt, ob Europa wichtige Schritte zur Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit unternommen habe und ob diese Herausforderung realistisch zu meistern sei.
Er definierte „meistern“ als das Ziel, den Lebensstandard und das Wohlergehen der Märkte und Bürger in Europa zu steigern und zu sichern. Dies sei angesichts des volatilen geopolitischen Umfelds möglich. Nagel betonte die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns und die Verringerung der Fragmentierung zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit.
Europas technologische Fortschritte
- Künstliche Intelligenz
- Saubere Technologien
Europa benötigt eine eigene zukunftsgerichtete Strategie. In vielen Bereichen, von Künstlicher Intelligenz bis zu sauberen Technologien, wurden immense technische Fortschritte erzielt. Es sei die Verantwortung Europas, private Investitionen durch mehr öffentliche Mittel zu fördern. Dies soll innovativen Unternehmen Wachstum ermöglichen und die Entwicklung brillanter Ideen unterstützen.
Insgesamt wird an vielen Fronten gearbeitet, um die von Mario Draghi im Bericht hervorgehobenen Probleme zu bewältigen. Europa muss eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Wachstumssektoren der Zukunft übernehmen.
Auswirkungen von US-Zöllen und Europas Resilienz
Bislang haben europäische Unternehmen die herausfordernde Situation geschickt gemeistert. Für die Zukunft sind starke Verbündete notwendig. Europa muss sich auf seine Resilienz konzentrieren, beispielsweise im Verteidigungsbereich. Nagel befürwortet, die Fähigkeiten Europas zu verbessern und seine Eigenständigkeit zu erhöhen.
Dennoch bleiben die Beziehungen zu internationalen Partnern, die demokratische Werte teilen, von größter Bedeutung.
Europa als sicherer Hafen für Investoren
Yannis Stournaras, Präsident der Bank of Greece, äußerte, dass Europa angesichts zunehmender internationaler Unsicherheit zu einem sicheren Hafen für Investoren werden könnte. Nagel stimmte dieser Einschätzung zu. Viele Länder, darunter Griechenland, haben in den letzten zehn Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Der Euroraum insgesamt ist sicherer und zuverlässiger geworden.
Als es vor zwei Jahren zu größeren Verwerfungen in den Bankensystemen der Vereinigten Staaten und der Schweiz kam, erwies sich der europäische Bankensektor als stabil. Europa kann seine Attraktivität für Anleger weiter steigern. Die Spar- und Investitionsunion ist hierfür ein wichtiges Projekt.
Die EU als Solidaritätsunion
Nagel ist überzeugt, dass die Mehrheit der Europäer die Vorteile einer Union erkennt. Angesichts von Kriegen, Handelshemmnissen und politischer Instabilität weltweit suchen Menschen nach Sicherheit. Dies bestätigt die Eurobarometer-Umfrage, die das Vertrauen in die EU und die Europäische Kommission auf dem höchsten Stand seit 18 Jahren zeigt.
Die zunehmenden geopolitischen Spannungen haben dazu geführt, dass Europa enger zusammengerückt ist. Die Bereitschaft, zentrale Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen, wächst. Nagel persönlich sieht darin mehr als nur eine Reaktion auf Krisen. Er glaubt, dass die Europäer durch gemeinsame Herausforderungen über Jahrzehnte gelernt haben, einander zu vertrauen. „Vertrauen ist unsere wertvollste Währung in Europa.“
Griechenlands wirtschaftlicher Fortschritt und zukünftige Herausforderungen
Nagel bezeichnete die Wirtschaftsleistung Griechenlands als beeindruckend. ELSTAT-Daten zeigen ein kräftiges Bruttoinlandsproduktwachstum, eine deutliche Verbesserung des Arbeitsmarktes und eine sinkende öffentliche Schuldenquote. Er ist sich bewusst, dass die letzten Jahre für viele Menschen in Griechenland schwierig waren.
„Die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist beeindruckend. Dieser Erfolg kann als Beispiel dienen und Mut machen, auch für mein Land.“
– Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank
Dieser Erfolg kann als Beispiel dienen und Mut machen, auch für Deutschland. Die wichtigsten Herausforderungen für die griechische Wirtschaft bestehen darin, ihre Dynamik beizubehalten, weiterhin zu wachsen und die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Nagel äußerte sich optimistisch und betonte, dass Europa diesen Herausforderungen gemeinsam begegnen wird.